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Kinderbetreuung und Personalmangel Trotz neuer Kitas: Wartelisten für Kinder in SH werden immer länger

Von Margret Kiosz | 13.07.2022, 18:32 Uhr

Wirklichkeit in Schleswig-Holstein: Städte und Gemeinden schaffen Betreuungsplätze, die jedoch nicht besetzt werden können. Grund: Personalmangel.

Überall in Schleswig-Holstein entstehen neue Kitas – architektonisch anspruchsvolle Bauten, bunt, kindgerecht mit attraktiven Außenanlagen zum Klettern und Toben. Doch obwohl sich Kommunen und Träger ins Zeug legen, bleiben Betreuungsplätze Mangelware.

Die Wartelisten in den 1830 Kitas im Norden werden immer länger. Der Grund: Es fehlt an Personal, um das baulich vorhandene Potenzial voll ausschöpfen zu können. Bei der Bundesagentur für Arbeit gab es im März 2019 noch 757 offene Stellen, im März 2022 waren es 1103.

Bei einer bundesweiten Erhebung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes stellt sich jetzt heraus, dass die Diskrepanz zwischen vorhandenen Räumen, also Plätzen, und ausgenutzten Plätzen nirgendwo so groß ist wie im Norden: In bundesweit jeder zweiten Kindertageseinrichtung verhindert der Fachkräftemangel, dass alle Betreuungsplätze vergeben werden können. In Schleswig-Holstein können Dreiviertel der befragten Einrichtungen ihre Kapazitäten nicht voll ausschöpfen, weil Personal fehlt.

Damit bremst der Personalmangel eine stärkere Belegung und eine Verbesserung der Betreuungsquote aus. An der Umfrage beteiligten sich Mitarbeitende aus mehr als tausend Kindertageseinrichtungen bundesweit, davon 31 in Schleswig-Holstein.

Auch die Fluktuation nimmt zu: Generell wird die Situation wegen der Arbeitsbelastung und der Personallage als angespannt beschrieben. Entsprechend nimmt auch die Fluktuation zu. In mehr als 80 Prozent der Einrichtungen wurde mindestens eine Stelle im Jahr der Befragung neu besetzt, meist waren es mehrere.

Bundesweit mussten von 100 Stellen im Schnitt 15 neu besetzt werden. Knapp ein Drittel der befragten Kita-Leitungen gibt an, in den vergangenen zwölf Monaten sei bei ihnen höchstens eine geeignete Bewerbung angekommen – oder gar keine.

„Die Situation ist desaströs.“
Kerstin Hinsch
Elternvertreterin

„Die Situation ist desaströs“, beschreibt Kerstin Hinsch, Mitglied der Kreiselternvertretung und Co-Vorsitzende der Landeselternvertretung, die Lage im Norden. Anders als früher gebe es meistens keinen Vertretungspool mehr, jeder Coronafall, jede Fortbildung oder Schwangerschaft reiße ein Loch in die Personalplanung, die dadurch ständig über den Haufen geworfen werden muss.

Ein Wechsel ist sinnlos

Belastende Nachricht an die Eltern: So wie jetzt in der Kita Kunterbunt in Tangstedt im Kreis Stormarn. Dort wurde den Eltern soeben mitgeteilt, dass wegen Personalmangels die Betreuungszeiten um drei Stunden pro Tag gekürzt werden. „Viele sehen sich gezwungen, ihre Arbeitssituation zu überdenken“, berichtet Hinsch. Ein Wechsel in eine andere Einrichtung bringe nichts, weil die Situation fast überall angespannt ist.

„Während der Corona-Pandemie hatte sich ein etwas geringerer Bedarf abgezeichnet. Jetzt, wo die Home-Office-Regelungen ausgelaufen sind, werden viele Eltern wieder an ihren Arbeitsplatz vor Ort beordert. Die Eltern sind auf die Gesamtöffnungszeit angewiesen, um ihrem Beruf vollumfänglich nachgehen zu können. Einigen droht jetzt Einkommens- oder im schlimmsten Fall sogar Jobverlust.“

Stets „fremde“ Betreuer sind für Krippenkinder Gift: Es fehlten sieben bis zehn zusätzliche Fachkräfte, um eine zuverlässige Betreuung über die gesamte Öffnungszeit von 6.30 Uhr bis 17 Uhr gewährleisten zu können. „In der Landeselternvertretung nehmen wir die Problematik des Fachkräftemangels in allen Kreisen und kreisfreien Städten deutlich wahr – Betreuungseinschränkungen sind überall an der Tagesordnung“, berichtet Hinsch, die einen fünfjährigen Sohn in einer Kita hat.

Katastrophal sei die Situation für Krippenkinder, die eine Bezugsperson brauchen. Ständige Fluktuation und Springerdienste von „fremden“ Betreuern seien für sie Gift.

Betreuungsstress überträgt sich auf die Kinder

Die Studie bestätigt die Beobachtung vieler Eltern im Norden, dass Betreuungszeiten eingeschränkt werden, Kinder tageweise gar nicht in die Kita können. Für Eltern bedeutet das Stress. Und der übertrage sich auf die Kinder.

Hinzu komme, laut Paritätischer-Chef Ulrich Schnieder, dass die Folgen der Corona-Krise bei den Kindern deutlich spürbar sind. Umso mehr Zeit bräuchten die Erzieherinnen eigentlich, um sich einzelnen Kindern widmen zu können. Mehr als die Hälfte der Befragten findet jedoch, mit dem vorgegebenen Personalschlüssel in ihrer Einrichtung könnten sie den Bedürfnissen der Kinder nicht entsprechen.

In Schleswig-Holstein sagen das sogar 71 Prozent. Zum Vergleich: In Baden-Württemberg (53 Prozent), Bayern (52), Hessen (45), Nordrhein-Westfalen (42) und Bremen (39) ist die Unzufriedenheit mit dem Personalschlüssel immer auch hoch, aber bei weitem nicht so hoch wie im Norden.

Insgesamt zeigt die Studie, dass die Ausstattung der Einrichtungen personell wie sachlich sehr unterschiedlich ist. Vor allem Kita-Beschäftigte, die viele Kinder aus sozial schwierigen Milieus betreuen, geben an, sich nicht ausreichend um alle kümmern zu können. Gerade diese Kinder hätten die Kita-Förderung eigentlich besonders nötig, auch weil sie in der Pandemie seltener in der Notbetreuung gewesen seien als Kinder aus privilegierteren Verhältnissen.

Personalschlüssel funktioniert nicht

Die Umfrageergebnisse des Paritätischen decken sich zum Teil mit Befragungen aus dem vergangenen Jahr. Bei einer Umfrage des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) gaben rund 80 Prozent der befragten Leitungskräfte an, dass die Personalschlüssel in ihrer Kita nicht den wissenschaftlichen Empfehlungen genügen.

Ein Viertel möchte aussteigen

Ein Viertel überlegt, aus dem Beruf auszusteigen: Und die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi fand zusammen mit der Hochschule Fulda heraus, dass 40 Prozent der Beschäftigten in Krippen, Kindergärten und Horten die Stelle wechselten, ein Viertel überlegte sogar, aus dem Beruf auszusteigen.

„Und wenn wir wen finden, müssen wir fürchten, dass sie oder er bei ersten Problemen gleich wieder kündigt, schließlich suchen genug Kitas Erzieher.“
Kita-Leiterin

Eine Kita-Leitung berichtet, trotz großer Werbekampagne lasse sich nicht genügend Personal finden. „Und wenn wir wen finden, müssen wir fürchten, dass sie oder er bei ersten Problemen gleich wieder kündigt, schließlich suchen genug Kitas Erzieher.“ Zumal die Arbeitsbedingungen im Norden offenbar schlechter sind als anderswo. Etwa bei den Überstunden – hier ist Schleswig-Holstein Spitzenreiter.

„In den kommenden fünf bis sechs Jahren fehlen uns 200.000 Beschäftigte in der frühkindlichen Erziehung.“
Maike Finnern
Pädagogen-Gewerkschaft GEW

Derweil fürchtet die Pädagogen-Gewerkschaft GEW, dass alles aus dem Ruder laufen könnte. „In den kommenden fünf bis sechs Jahren fehlen uns 200.000 Beschäftigte in der frühkindlichen Erziehung“, so GEW-Vorsitzende Maike Finnern.

Eine weitere Herausforderung für das Bildungssystem ist derzeit die Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine. Etwa 318.000 minderjährige ukrainische Flüchtlinge sind in Deutschland registriert, unter ihnen rund 75.000 im Kita-Alter. „Das verstärkt den Fachkräftemangel nochmals“, erläuterte Finnern.

Wartelisten werden immer länger

Die Sorge hat Hinsch aktuell nicht. Noch seien kaum ukrainische Kinder in den Kitas, da die bestehenden Wartelisten erstmal abgebaut werden müssten. „Gefühlt gibt es in drei von vier Kitas solche Wartelisten, und die werden immer länger“, so Hinsch. Kieler Eltern berichten von 40 Kindern, die „vor ihren dran sind“. Kein Wunder also, dass 67 Prozent der Kitas, die der Paritätische befragte, meinen, dass das Angebot von Betreuungsplätzen für Kinder auf kommunaler Ebene nicht ausreichend ist. Das bedeutet zugleich Abstriche bei der wichtigen altersgemäßen Förderung – gerade bei Kleinkindern.

Neulinge „meist völlig überfordert“: Als gäbe es für Schleswig-Holstein nicht schon rote Laternen genug, stimmen im Norden auch noch so wenig Befragte wie in keinem anderen Bundesland der Aussage zu: Fertig ausgebildete Erzieherinnen bringen die erforderlichen Kenntnisse zur Gestaltung des Kita-Alltages mit. „Die Erzieherinnen kommen nach der Ausbildung praxisunerfahren in einer Kita an und sind mit den alltäglichen Bedürfnissen der Kinder und dem pädagogischen Alltag meist völlig überfordert“, lässt sich in der Studie eine Kita-Leitung zitieren.

Sie erlebe wenig geeignete Bewerberinnen mit abgeschlossener Ausbildung, sei es aufgrund mangelnder Berufserfahrung oder weil die Haltung zu Kindern ihrer Ansicht nach nicht stimmt.

Was bringt das Gute-Kita-Gesetz?

Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands, zieht ein bedenkliches Fazit: Es sei „ein Armutszeugnis, wenn es uns in diesem reichen Land nicht gelingt, jedem Kind eine gesunde Mahlzeit, bestmögliche Förderung in der individuellen Entwicklung und eine möglichst unbeschwerte Kindheit zu ermöglichen“.

Von diesem Ideal ist nach Ansicht von Hinsch der Norden weit entfernt. Zwar habe die bisherige Landesregierung sich bemüht, aber die Umsetzung des neuen Gute-Kita-Gesetzes habe dazu geführt, „dass eine bislang zuverlässige, aber mittelmäßige Betreuung abgelöst worden sei durch eine unzuverlässige, aber vielleicht etwas bessere“.

Da können sich Eltern nur die Haare raufen.